Veröffentlicht am 15. September 2016

Schlafrhythmusstörung bei Blinden

Der Schlaf-Wach-Rhythmus des Menschen wird von seiner inneren Uhr gesteuert. Diese benötigt Informationen über das Tageslicht, damit sie optimal arbeiten kann. Bei vielen Blinden gerät die innere Taktung deshalb aus dem Gleichgewicht. Ernste Schlafstörungen und andere Gesundheitsprobleme können die Folge sein.

In den 1980er Jahren standen Forscher vor einem Rätsel: Sie untersuchten Blinde, denen Ärzte aus ästhetischen Gründen die scheinbar nutzlosen Augen entfernt hatten. Vorher besaßen manche der Blinden einen ganz gewöhnlichen Tagesrhythmus. Sie gingen immer wieder spätabends zu Bett, schliefen tief und wachten am Morgen erholt auf. Nach dem Eingriff war dieser Tag-Nacht-Rhythmus auch bei ihnen weitgehend verschwunden.

Etwas Wichtiges musste mit den Augen entfernt worden sein. Irgendein Sinnesorgan, das man noch nicht kannte, das aber bedeutsam für das innere Zeitgefühl des Menschen ist. Die Forscher stellten die These auf, es gebe in der Netzhaut des Auges nicht nur die Stäbchen und Zapfen, mit denen wir Bilder von unserer Umwelt wahrnehmen, sondern zusätzlich eine dritte Klasse von Lichtsinneszellen. Diese würden uns unbewusst verraten, ob es gerade Tag oder Nacht ist.

Es sollte bis ins Jahr 2001 dauern, bis diese Zellen tatsächlich gefunden waren. Damals entdeckten Biologen eine neue Art von Zellen in der Netzhaut des Menschen. Diese Melanopsin-Zellen reagieren auf Licht. Sie messen permanent wieviel Helligkeit ins Auge fällt und erfassen letztlich, ob es gerade Tag – also hell – oder Nacht – also dunkel – ist. Dieses Signal senden sie an ein kleines Areal mitten im Gehirn.

Dort, in einer rund 20.000 Nervenzellen umfassenden Struktur namens Suprachiasmatischer Nukleus, kurz SCN, befindet sich das Zentrum unserer inneren Zeitmessung. Von hier aus erhält der Körper Informationen über die aktuelle Uhrzeit. Fehlen die Melanopsin-Zellen, fehlt auch der Kontakt zur Außenwelt. Dann kann sich das Zeit-Zentrum nicht mehr korrigieren. Es läuft zunehmend ungenau und macht es Betroffenen immer schwerer, einen korrekten Schlaf-Wach-Rhythmus aufrechtzuerhalten.

Genau das war mit der einen Gruppe der einst operierten Blinden passiert. Vor dem Eingriff hatten sie noch intakte Melanopsin-Zellen. Sie gehörten zu jenen Blinden, die trotz ihrer Behinderung einen perfekten Tag-Nacht-Rhythmus leben. Nach der Operation verloren ihre inneren Uhren aber das, was die Experten den Zeitgeber nennen. Sie erzeugten nur noch ihren intuitiven, mehr oder weniger stark von der Außenwelt abweichenden Rhythmus.

Dadurch erging es ihnen genauso, wie den anderen Blinden bereits vor der OP: Sie entwickelten eine Schlafrhythmusstörung, auch Non-24-Syndrom genannt. Das innere Zeitgefühl Betroffener läuft nicht mehr exakt im 24-Stunden-Rhythmus. Deshalb werden sie oft tagsüber müde und haben keinen Appetit. Nachts liegen sie oft wach und haben Kohldampf. Die Folge sind auf Dauer ernste Schlafstörungen aber auch ein erhöhtes Risiko für Stoffwechselkrankheiten wie Diabetes oder starkes Übergewicht, Herz-Kreislauf-Krankheiten und psychische Leiden aller Art.

Etwa zwei Drittel der Blinden haben solche Probleme mit ihrer biologischen Zeitmessung. Manchmal gelingt es ihnen, mit anderen Signalen das Licht als Zeitgeber zu ersetzen: Mahlzeiten oder viel körperliche Bewegung können den inneren Uhren zum Beispiel ebenfalls anzeigen, dass es gerade Tag ist. Deshalb ist gerade für Blinde ein geregelter Tagesablauf mit viel Aktivität am Tag und wenig Aktivität in der Nacht wichtig.

Die verschiedenen Organe des Körpers – etwa Leber, Muskeln oder Darm – wirken nämlich indirekt auf die zentrale Uhr im SCN zurück. Werden die Organe zu einer sinnvollen Zeit aktiviert, stärkt das auch den biologischen Takt. Umgekehrt gibt die zentrale Uhr dem Rest des Körpers aber auch vor, ob er gerade im Nacht- oder im Tagesmodus arbeiten soll. Dabei helfen Hormone: Cortisol, dessen Produktion schon vor dem Aufwachen angeregt wird, ist eine Art Tagesbote. Sein Genspieler und Nachtbote ist das Melatonin, das die Zirbeldrüse am späten Abend und über die gesamte Nacht hinweg ausschüttet.

Melatonin sagt aber nicht nur den Organen, dass es Nacht ist. Es wirkt auch auf die Zeitmessung im Gehirn zurück, fungiert also selbst als eine Art Zeitgeber. Ist viel Melatonin im Blut, wirkt das genau so, als würden die Melanopsin-Zellen im Auge Dunkelheit registrieren: Der SCN verstellt sich in Richtung Nacht.

Genau diese Eigenschaft des Nachthormons nutzen Mediziner seit einigen Jahren, um Blinden mit Non-24-Syndrom zu helfen. Die Patienten erhalten künstliches Melatonin oder ein Medikament, das wie Melatonin wirkt. Beides ist hierzulande verschreibungspflichtig und sollte möglichst immer zur gleichen Zeit kurz vor dem Schlafengehen genommen werden. Wenn man den Melatoninspiegel genau dann künstlich erhöht, wenn er ohnehin im Ansteigen ist, dann verstärkt und synchronisiert sich nämlich der Takt der biologischen Uhren, weiß der Melatonin-Experte und Schlafmediziner Dieter Kunz vom St.-Hedwig-Krankenhaus in Berlin: „Melatonin ist wie ein Zement, der die Rhythmen des Körpers zusammenhält.“

Der Autor: Dr. rer. nat. Peter Spork ist Biologe und gilt als „einer der führenden Wissenschaftsautoren Deutschlands“ (DLF). In seinem aktuellen Buch „Wake up! Aufbruch in eine ausgeschlafene Gesellschaft“ (Hanser Verlag), erklärt er, wie innere Uhren funktionieren, warum wir so oft gegen ihre Impulse leben und was wir tun können, um das zu ändern.

Mehr vom und über den Autor gibt es auf seiner Website http://peter-spork.de/

(Foto des Autors: ©Franka Frischling)