Jane Morgenthal leitet seit 2017 die Geschäftsstelle des Bundesverbandes Eltern blinder und sehbehinderter Kinder e.V. (BEBSK e.V.) in Berlin. Sie ist Mutter eines 11jährigen blinden und geistig behinderten Sohnes. Im Interview erzählt sie, was die besonderen Herausforderungen in Zeiten von Corona sind.
Frau Morgenthal, wie hat sich Ihr Alltag und der Alltag Ihres Kindes seit Beginn der Corona-Krise verändert?
Jane Morgenthal: Fast alle Unterstützungssysteme (Therapien, Entlastung durch Schule und Hort, sowie durch die Großeltern) sind weggebrochen. Da unser Sohn blind und geistig behindert ist, ist es für ihn nicht möglich, Aufgaben zu Hause zu erledigen. Seine Ziele in der Schule und zu Hause bestehen darin, dass er im Leben und Alltag selbstständiger wird – das findet jetzt nur noch zu Hause statt. Abwechslung im Alltag können wir ihm kaum bieten, da Spielplätze und Schwimmbäder – seine liebsten Orte – aktuell nicht zugänglich sind, Therapien und Förderungen durch Externe entfallen. Wir haben das Glück, dass unsere Einzelfallhelfer zu uns kommen und uns unterstützen, was bundesweit längst nicht bei allen Familien der Fall ist. Auch Schulassistenten, die teilweise in die Familien gehen und dort vor Ort unterstützen sollen, werden von den Trägern nicht geschickt oder die Finanzierung wird gestrichen.
Was ist zurzeit die größte Herausforderung für Sie?
Therapeutin, Pädagogin, Hausfrau und Mutter gleichzeitig zu sein. Dabei meinen Sohn nach seinen Fähigkeiten irgendwie einzubeziehen und irgendwie Stunden zum Arbeiten „abzuknapsen“. Zeit zum Durchatmen für einen selbst gibt es da kaum, auch wenn wir zu zweit sind aber eben auch beide im Homeoffice arbeiten.
Auch in „normalen“ Zeiten fällt es schon schwer, blinde Kinder (geistig und motorisch) auszulasten, da die Freizeitmöglichkeiten eingeschränkt sind. Das fällt jetzt noch mehr ins Gewicht: blinde Kinder gehen noch weniger gern als sehende „spazieren“, Bücher gibt es nur in begrenzter Auswahl, nicht jede Familie hat ein Tandem oder unzählig angepasste Gesellschaftsspiele zu Hause. In der aktuellen Zeit fällt auch auf, wie unterschiedlich schnell und gut die Schulen in puncto Digitalisierung sind. Ich höre von einigen Familien, dass ihre Kinder keine barrierefreien Materialien erhalten. Wenn die Eltern selbst nicht „fit“ genug in der Blindenschrift oder entsprechender Software sind, erhalten sie kaum Unterstützung und die Kinder sind beim Lernstoff außen vor.
An welcher Stelle würden Sie sich mehr Unterstützung wünschen und durch wen?
In Berlin wurde zu unserem großen Glück sehr schnell eine Notbetreuung in den Schulen für Kinder mit hohem Förderbedarf eingerichtet, egal, welchen Beruf die Eltern haben. Das unterstützt sehr. Schön wäre, wenn wir wieder zu allen Therapien gehen könnten und auch öffentliche Spielplätze wieder zugänglich wären. Geärgert hat mich sehr, dass zwar vom Senat in Berlin schnell, gute Angebote für die Familien geschaffen wurde aber die Informationen sehr schlecht zu den Eltern gelangt sind und viele Träger von Schulen und Kitas die Unterstützung trotzdem verwehrt haben.
Bundesweit würde ich mir für die Familien wünschen, dass Träger vernünftige Lösungen finden und Schulassistent*innen oder ggf. auch Förderlehrer*innen nach Hause kommen und bei der Bearbeitung von Aufgaben und Materialien unterstützen können. Teilweise bedarf es spezieller Materialien und Drucke, die sonst nur in der Schule hergestellt werden können und die die Personen mit nach Hause bringen könnten.
Worauf freuen Sie sich am meisten, wenn wieder Normalität eingekehrt ist?
Soziale Kontakte und freie Zeit für mich!! Die ich mir in „normalen“ Zeiten auch schon durch Struktur und gute Unterstützungssysteme schaffen musste aber zumindest etabliert waren. Abwechslung und Struktur für uns und unseren Sohn bei der Alltags- und Freizeitgestaltung: planen und wieder dorthin gehen zu können, wohin wir möchten.
Haben Sie einen Tipp für Eltern und Kinder, die in der gleichen Situation sind?
Den eigenen Anspruch stark zurück zu fahren und sich auf das Nötigste konzentrieren. Bei Problemen, sich sofort über Vereine oder Notfallnummern Hilfe zu holen und Situationen nicht eskalieren zu lassen. Wenn möglich, sich über Unterstützungssysteme informieren und diese in Anspruch nehmen! Sich generell nicht (schulisch) unter Druck setzen zu lassen! Aktuell finde ich es wichtiger, dass wir alle (physisch und psychisch) gut durch diese Zeit kommen und bin mir sicher, dass Kinder Lerninhalte durchaus nachholen können. Und bei allem: den Humor nicht verlieren!
Der BEBSK e.V. setzt sich für die Vernetzung und Unterstützung von Familien mit blinden, seh- und mehrfachbehinderten Kindern ein. Der Verein stellt Informationen und Materialien zur Verfügung, berät rund um das Thema „blinde Kinder“ und organisiert Fachveranstaltungen und Familientreffen.